Foto Francesca Pfeffer

 

HANS HASSLER
INNERCHWEIZER KULTURPEIS 2018

Die Innerschweizer Kulturstiftung ehrt den Akkordeon-Spieler Hans Hassler mit dem Innerschweizer Kulturpreis 2018. Den Preis hat der 73-Jährige am Samstag, 29. September 2018 im Theater Casion in Zug erhalten.

 

Laudatio von Patrik Landolt

 


Lieber Hans
Sehr geehrter Herr Regierungsrat Stephan Schleiss
Sehr geehrter Herr Aldo Caviezel
Geschätzte Freundinnen und Freunde von Hans Hassler

Wenn wir uns mit der Musik von Hans Hassler auseinandersetzen, wollen wir das Rätsel
seiner Kunst erfassen, wie es zu dieser Musik kam, welche Rolle der Musiker dabei spielt.
"Wen kümmert's, wer spielt?" Diese auf die Musik umgewandelte Äusserung des
Schriftstellers Samuel Beckett (er bezog sich auf Texte und schrieb: Wen kümmert's, wer
spricht?) fragt nach der Rolle des Autors. Lässt sich die Musik ohne Kenntnis der Biografie
des Musikers verstehen? Oder versperrt die Biografie des Künstlers – das Leben des
Musikers, den wir heute ehren – den Blick aufs Werk?

Wer den Musiker Hans Hassler live erlebt oder seine CDs hört, findet bei jedem Ton
Hinweise auf den Menschen, auf die Persönlichkeit. Hans Hassler Musik ist geprägt von
einer Vielfalt von Formen, Stilen, Genres. Vielschichtigkeit ist das Stichwort. Eine
reichhaltige Musik korrespondiert auf verschlungenen Wegen mit einer reichhaltigen
Persönlichkeit – mehrdimensional und offen. Der Festredner muss aufpassen, dass er
keine Klischees bedient. Allein schon die Erscheinung von Hans Hassler, seine szenische
Präsenz – sein Bart mit der fein gezöpfelten Strähne in der Mitte, sein Zopf im Nacken –
verführen zu Projektionen. Wie passt diese Erscheinung zu seiner Neigung für schnelle
Autos, für Rennvelos? Zu seinem freien Geist. Wie passt der Ländler zur Avantgarde? Wie
der Witz und der Schalk zu seiner Behutsamkeit, seinem Tiefgang, auch seiner
Melancholie? Meine Jahre der Zusammenarbeit mit Hans Hassler als Produzent sind
geprägt von einem ständigen Neuentdecken und einem vertieften Kennenlernen. Von
Überraschungen. Das Staunen über Hans Hassler und seine Musik ist auch ein Staunen
über mich, über uns Hörerinnen und Hörer.

Beginnen wir mit einem wunderbaren Zitat über die Musik von Hans Hassler. Der Luzerner
Jazzkenner und Journalist Pirmin Bossart führt mit poetischen Worten in die erste Solo-CD
von Hans Hassler mit dem Titel "Sehr Schnee, sehr Wald, sehr" ein. Er schreibt: "Unbeirrt
mäandert Hans Hassler durch die Topografien seiner musikalischen Heimat. Er kennt sie
alle: Die Hügel ferner Volksmusik, die Täler der Verschmitztheit, die Schluchten der
Improvisation, die offenen Weiten des Augenblicks. Sein musikalischer Exploit ist eine
grosse Intuition. Seine Fantasien haben hundert Augen und hundert Ohren. Um jede
Biegung liegt die nächste Überraschung. Alle Etappen seiner langen musikalischen
Erfahrung blitzen darin auf. Die Verwegenheit ist da, die schräge Virtuosität, die
Eigenbrötlerei. Das Erlebnis ist perfekt, wenn man Hans Hassler auch performen sieht."

Hans Hassler lässt sich Zeit. Im Alter von 62 Jahren spielte er dieses erste Soloalbum
ein. Auf diese Art zu improvisieren – im Moment zu erfinden, weit auszuholen, so explosiv
und überbordend, poetisch und lyrisch zugleich zu spielen –, das zeugt von einer langen
musikalischen Erfahrung.

Die Zeit. Hans nimmt sich Zeit. – Er hat das Glück, aus einem musikalischen Haus zu
kommen. Sein Vater, Stadtarbeiter in Chur, war Bassist bei der Ländlerkapelle Calanda.
Mit der Bündner Ländlermusik ist Hans grossgeworden. Mit seinen beiden Brüdern Werner
und Claudio trat er als "Hassler-Buebe" auf und wurde weitherum bekannt. Hans wuchs
wie die meisten Bündner Ländlermusiker ohne Harmonielehre auf. Er spielte aus der
Intuition, aus dem Gespür. Hans bewunderte die virtuosen Innerschweizer wie etwa Edi
Bär. Hassler schildert: "Bei dem war ich einmal in den Ferien. Er war ein wahnsinnig guter
Klarinettist, technisch brillant. Die Bündner hingegen waren Amateure, Bauern, Arbeiter,
und galten etwas minderwertig in der Schweizer Welt des Ländlers."


Viele, viele Jahre später, 2014 – Hans Hassler lässt sich Zeit – setzt er den Bündnern mit
seiner CD "Hassler" ein Denkmal, zusammen mit den drei Jazzmusikern Gebhard Ullmann,
Jürgen Kupke und Beat Föllmi. Hier zelebriert er die originale Kraft der Bündner, bei der
das Bodenständige, die Originalität und Wucht der Themen, die Stärke des Einfachen,
eine grosse Qualität darstellen. Hier schöpft Hans Hassler aus dem Vollen, verknüpft
seine Wurzeln mit seiner Lebenserfahrung und seiner technischen Brillanz. Was für
wunderbare Musik! Hören Sie die Hommage an den Bündner Volksmusiker Paul Kolleger
mit dem Stück "Branntenweinrauschwalzer" oder die liebevolle Weiterentwicklung von
Hans Fischers "Am Pfluma-Sunntig". Der Journalist Peter Rüedi, der die Liner Notes im
CD-Booklet verfasst hat, nennt Hans Hassler im gleichen Atemzug einen Anarchisten wie
auch einen Traditionalisten: Er schreibt: "Sehr freie Musik, poetisch, verspielt, weitab von
der Bündner Ländlermusik, zumindest manchmal, und dann wieder vorsichtig nach ihr
suchend … eine Recherche du Ländler perdu, eine eigene Art von Kammermusik.
" Und an
anderer Stelle: "Im sanften Anarchisten, im Alpöhi Hassler steckt, sozusagen als innerste
Babuschka, ein Traditionalist."


Stimmt das? Hans Hassler betont an mehreren Stellen – sowohl im Filmportrait "Hasslers
Universum" von This Lüscher fürs Schweizer Fernsehen wie auch im Gespräch mit Peter
Rüedi –, dass er den Ländler nicht desavouieren oder gar verhunzen wolle. Er spiele aus
Freude die schönen Themen, ohne etwas blosszustellen. Hassler sagt: "Es reizt mich, mit
dem Material zu spielen, einzelne Elemente zu isolieren, zu verlängern, umzukehren."

Dass er dazu ein offenes Publikum braucht, das bereit ist, mit ihm auf die Reise zu gehen,
weiss Hans. Er hat auch Ablehnung erfahren. Beim "Länderpublikum" kommt es nicht
immer gut an, wenn nicht original gespielt wird. Der Sohn des Bündner Komponisten Hans
Fischer reagierte verärgert auf die Art, wie Hans Hassler die Kompositionen seines Vaters
spielt. Er forderte, dass die CD eingestampft wird. Und der Volksmusik-Papst Sepp
Trütsch wetterte im "Blick" über Hans Hassler, als er fürs Fernsehpublikum an der Ski-WM
spielte: "Ihm – Trütsch - platzte fast der Kragen." Werk und Autor passten Trütsch nicht.
Überschrieben war der Text mit "Schiefe Töne und Frisur".

Diese Auseinandersetzung geschah nicht in den Fünfzigerjahren, sondern 2017. In der
Schweizer Volksmusik lodert ein Streit um die Definitionsmacht, was Schweizer
Volksmusik ist und darf und wem es erlaubt ist, sie zu spielen.

Nun ja, wie klingt denn die Schweiz? Köbi Gantenbein, Architekturkritiker im
"Hochparterre" und Ländlerfan, kann nicht verstehen, wieso Hans Hasslers Musik die
Ländlerfreunde zum Knurren bringt. Er schreibt: "Hörten sie zu, so hörten sie, wie Hassler
sich vor der Tradition verbeugt. Es berührt mich, wie sanft und respektvoll er Fischer,
Brüesch und Co. zeitgenössisch spielt und nicht einfach modisch gegen den Strich
bürstet."

Hans Hassler, vielschichtig, vielfältig, ein Musiker von heute, zeitgenössisch und in der
Tradition fussend. Die Frage nach dem Sound der Schweiz führt ins Abseits. Grosse
Kunst ist weltläufig, auch wenn sie lokale Wurzeln hat – oder besser gesagt: gerade wenn
sie lokale Wurzeln hat. Hasslers Musiksprache, sein "Akkordeonisch" ist eine universalere
Sprache als Schweizerdeutsch, selbst universaler als Esperanto. Ich zitiere aus einer CDRezension,
die Bezug auf die Stücktitel von Hasslers Soloalbum nimmt: "Unter Hasslers
Fingern ertönt dieser Dialekt – sein "Akkordeonisch" – als Vox Humana, mit der sogar
Tiere zu sprechen, ein Teppich zu fliegen, eine Sanduhr oder eine Nähmaschine zu
tänzeln, ein König ohne Land zu klagen beginnen. ‚Benigna' hat Bienen unter der Perücke,
‚Spitziges Zeug' zuckt nervös hin und her, der Disput ist sowas von oho."

"Eine Reise in eine vollkommen neue Welt", schreibt die britische Kult-Musikzeitschrift
"The Wire" über Hasslers Musik. Eine Reise ins Surreale.

In den Sechzigerjahren macht Hans in Chur die Matura und zieht dann ins Unterland. Er
studiert ein paar Semester Anglistik und Musikwissenschaft, ausserdem ab 1969
Klarinette an der Musikakademie Zürich. Er gibt Musikunterricht, spielt in der Tonhalle, in
der Oper, im Theater. Am Akkordeon hält er fest. So wie er auch den Bezug zum Bündner
Ländler nicht verliert. Er lernt seine Frau Regula kennen. Regula erzählt im
Fernsehportrait, wie Hans ein Jahr lang um sie geworben habe, als sie beide an der
Musikschule in Steinhausen unterrichteten, sie Querflöte, Hans Klavier. Wie er sie mit
seinem Charme und seiner Phantasie gewinnen konnte. Einmal lag eine Erdbeere auf
dem Klavier in ihrem Musikzimmer, dann ein schönes Briefchen unter dem
Scheibenwischer ihres Autos. Sie gründen eine Familie. Fünf Kinder ziehen Regula und
Hans auf: Inga Lisa, Marion, Benigna, Aurel und Moritz.

Als einen "Meteoriteneinschlag" bezeichnet Hans Hassler die Begegnung mit dem
dänischen Akkordeon-Pionier Mogens Ellegaard (1935–1995). Ellegaard, der grosse
Meister des zeitgenössischen Akkordeons, hat das moderne Akkordeon weiterentwickelt
und ein neues Repertoire ermöglicht, indem er Werke in Auftrag gab. Hassler hörte
Ellegaard am Schweizer Radio, telefonierte nach Kopenhagen und wurde von ihm
eingeladen. Es entsteht eine Freundschaft mit Mogens und Margarete Ellegaard.
Ellegaard eröffnet Hans Hassler den Kosmos der Neuen Musik und die tiefen
Geheimnisse des Akkordeons. Als Mogens Ellegaard 1995 stirbt, gibt seine Frau dessen
Akkordeon an Hans Hassler weiter. Heute spielt Hans Hassler auf zwei Instrumenten von
Mogens Ellegaard, zwei Spitzeninstrumente russischer Akkordeonbaukunst mit den
Namen Mythos und Jupiter.

Die Begegnung mit Mogens Ellegaard öffnete auch den Weg zur Welt der Improvisation,
den Klanguniversen aktueller Jazzmusik. Der Bandleader Mathias Rüegg lud Hans
Hassler ins Vienna Art Orchestra ein, Hassler spielte mit dem Jazztrio Koch–Schütz–
Studer und mit dem Berliner Saxofonisten Gebhard Ullmann. In der Band Habarigani beim
Zuger Trompeter Hans Kennel schliesst sich der Kreis. Im Zuge der Emanzipation des
europäischen Jazz von den amerikanischen Vorbildern suchten europäische Jazzerinnen
und Jazzer nach ihren eigenen Roots, nach einer "Folklore Imaginaire". Hier brilliert
Hassler mit seiner Kenntnis des Schweizer Ländlers, seinem improvisatorischen Können,
seiner hochentwickelten Klanglichkeit. Legendär ist sein Soloauftritt von 1988 am
Jazzfestival Zürich. Ein Solo zwischen den Konzerten der weltberühmten Jazzmusiker
Michel Portal und Michel Petrucciani: Hassler wusste sich zu helfen. Er spielt Hommagen
an seine Töchter Inga Lisa, Marion und Benigna und beendet das Konzert mit einem
Kopfstand.

Komik, Witz, Ironie, Phantasie, viel Poesie und eine vollkommen eigene künstlerische
Sprache sind Merkmale von Hans Hasslers Musik. Es sind Eigenschaften und
Charakterzüge, die Hassler mit einigen der grossen Schweizer Künstler teilt. Ich denke an
den Schriftsteller Robert Walser, an den Theatermacher und Musiker Ruedi Häusermann
oder an den Künstler Roman Signer. Alles höchst kreative Originale, deren künstlerische
Qualitäten und Innovationen in ihrer Verspieltheit, in ihrem Schalk und Eigensinn gerne
verkannt werden. Und deren Persönlichkeit – die Biografie, der künstlerische Weg – der
Schlüssel zum Geheimnis ihrer Kunst ist.

Ich freue mich sehr über den Innerschweizer Kulturpreis an Hans Hassler und gratuliere
von Herzen.

Patrik Landolt, September 2018

 

 

Hans Hassler: CDs auf Intakt Records

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